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Im zweiten Teil des Interviews spricht Dr. Carolyn Koch-Falkenberg mit dem Sozialwissenschaftler Prof. Dr. G. Günter Voß über die neuen Belastungen, denen sich Mitarbeiter*innen in den Pandemiezeiten im Homeoffice stellen müssen und darüber, wie gute Führung von Mitarbeiter*innen während und nach Corona gelingen kann.
Den ersten Teil des Interviews finden Sie unter:
www.projecdo.de/psychische-belastungen-und-wie-betriebe-damit-umgehen/

Carolyn Koch-Falkenberg:
In unserem zweiten Interviewteil geht es zentral um das Thema Homeoffice. Zudem werden wir die aktuellen Herausforderungen von Führungskräften thematisieren.
Gestern sprach ich mit einer Mitarbeiterin. Sie und ich kamen zu folgendem Fazit: Durch das Arbeiten im Homeoffice wird unsere Arbeit noch einmal deutlich verdichteter. Das ist das eine. Durch diese ganze digitale Taktung der Termine ist alles stärker verdichtet. Früher hatten wir zwischen unseren dienstlichen Terminen 5, 10, 15 Minuten Zeit oder Luft, heute ist es oft nicht mal eine Minute, bis das nächste virtuelle Meeting beginnt. Ein Zoomtermin jagt den nächsten im Outlook-Kalender, oder eben Teams, Skype, WebEx und wie sie alle heißen. Pausen werden noch stärker reduziert, viel mehr Arbeit wird in den Alltag komplett integriert, weil die Kinder zudem zuhause betreut werden, heißt das, dass man über den Tag so vor sich hin kämpft, mit Kindern in der Wohnung, im Haus. Und am Abend geht das Ganze weiter.
Jegliche Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben sind komplett aufgelöst worden. Das war der Eindruck meiner Kollegin und mir. Doch ich glaube, wir sind keine Einzelfälle. Wir haben uns dann auch gefragt, wie es werden wird, wenn die Pandemie abschwächt. Wir glauben nicht, dass Homeoffice von heute auf morgen tabu sein wird. Auch, weil die Unternehmen sehen, wie es funktionieren kann – nach der anfänglichen Skepsis. Jetzt auf einmal ging es doch: auch Betriebe, die es nie wollten und auch Mitarbeiter, die es nie wollten, erkennen nun nach und nach auch die Reize des Ganzen. Die Fahrt ins Büro entfällt, die unterbrechungsfreie Zeit zum konzentrierten Arbeiten, weil nicht permanent jemand mit ad hoc-Problemen in dein Zimmer gerannt kommt, sondern die Themen warten dann eben, bis du in einem Daily per Videocall zusammensitzt und dann ist vielleicht das ein oder andere akute Problem schon gegessen. Oder: ich bringe die Kinder in die Kita und setze mich in Jogginghose an den Rechner. Wie wird es weitergehen? Es wird doch sicher nicht, wie es war.
Günter Voß:
Ja, es ist so. Du hast es sehr gut beschrieben. Vieles weiß man noch nicht. Aber es gibt schon erste Untersuchungen, die sind aber noch sehr verstreut.
Ich weiß von einer St. Gallener Untersuchung, die auch langlaufend ist und erforscht „Wie wirkt sich Homeoffice aus“ und auch die BAuA arbeitet zu dem Thema. Ich nahm vor Kurzem an einem virtuellen Podium teil und ein Redner der BAuA präsentierte spannende Zahlen zu Homeoffice. Erstens ist richtig zu registrieren, dass weiterhin Homeoffice zunimmt. Es zeigen sich aber große Unterschiede, je nachdem, wo wir uns gerade befinden, in welcher Branche und in welcher Hierarchieebene von Betrieben, welche Arbeitskräftegruppen, Männer und Frauen. Also es gibt große Unterschiede, die man berücksichtigen muss, wenn es darum geht, wie man das steuert. Aber es nimmt zu und was ich zunehmend höre, ist, dass viele Arbeitskräftegruppen, nachdem sie am Anfang irritiert waren, und auch viele Betriebe, merkten: es funktioniert. Und sie haben es auch – genossen würde ich jetzt nicht sagen –gemerkt, dass sie ganz gut damit zurechtkommen, wenn sie nicht jeden Tag um 7.30 Uhr im Unternehmen sein müssen, sondern später kommen oder auch nicht kommen. Und sie haben versucht, sich damit zu arrangieren.
Zweitens muss man dann sofort nachfragen: „Wie sieht es jetzt aus, dein Homeoffice? Ist das am Küchentisch und dir gegenüber sitzt noch ein anderer, der auch Homeoffice macht und noch drei Kinder? Und dann kommt der Hund auch noch und bellt.“
Das ist nicht lustig. Oder ist es komfortabel mit einem eigenen ruhigen Arbeitsraum? Und der ist auch gut ausgestattet, da kann man viel machen. Aber viele Arbeitskräfte berichten dann (auch aus meinem persönlichen Umfeld): „Ja, das ist irgendwie ganz gut. Ich bin auch ganz froh, dass ich auch in der Coronazeit nicht jeden Morgen in die U-Bahn muss, da habe ich Angst davor, und auch abends zurück.“ Aber ich höre auch: „Ja, aber ich will nicht mehr jeden Tag Homeoffice machen.“
Vielen scheinen eine intermittierende Form anzustreben, Homeoffice und Büro im Betrieb.
Eine Kollegin habe ich gefragt, wie das ist. Sie macht seit über einem Jahr nur Homeoffice und sagt, das will sie nicht auf Dauer, sondern ideal wäre drei Tage Homeoffice und zwei Tage vor Ort. Sie möchte gern zurück in den Betrieb, aus vielen Gründen, und das würde sie auch gern selbst steuern. Sie weiß nicht, wie der Betrieb zukünftig damit umgeht, und der Betrieb weiß es auch noch nicht. Sie stellte dann aber auch fest, dass der Betrieb sehr schnell räumlich etwas verändert hat. Auf einmal sind zwei Räume, die sie vorher hatten, nicht mehr da. Und dann sagt sie: „Wenn wir jetzt alle wieder zurückkehren in den Betrieb, dann wird es problematisch. Sitzen wir dann alle zu viert in einem Raum und dann immer noch unter Pandemiebedingungen?“ Also, da müssen sich die Unternehmen und die Beschäftigten etwas einfallen lassen oder Wege finden, wie man das organisieren kann.
„Wenn sie Glück haben, ist ein Gesundheitsbeauftragter im Betrieb, der fragt
„Wie sieht das bei dir zuhause aus im Homeoffice?“
Aber viele Betriebe sind froh, wenn sie die Frage nicht stellen müssen."
Carolyn Koch-Falkenberg:
Ja, das ist mir aus der Praxis sehr vertraut. An diesem Punkt stehen auch einige unserer Partner im Moment.
Günter Voß:.
Zweites Thema, was mir auch immer wieder zugetragen wird: Es hat sich auch in den Geschlechterverhältnissen etwas verändert. Die Frauen merken, wie anstrengend das ist, nicht nur zuhause die Hausarbeit zu machen, sondern das mit Berufsarbeit zu verbinden. Also am berühmten Küchentisch oder wo auch immer (vielleicht am Schminktischlein), muss man jetzt seinen Laptop aufschlagen. Und das sieht nicht nur hässlich aus, sondern es ist auch ziemlich unpraktisch.
Und am anderen Ende sind es die Männer, die jetzt dann zuhause sind und zweierlei lernen: Einmal, dass es ganz gut ist, wenn sie mal mitkriegen, wie das ist mit den Kindern ist, positiv, aber auch negativ, weil es anstrengen kann. Aber auf einmal erleben sie die Kinder, gerade die Kleinen, was sehr erfreulich ist und wollen das auch nicht mehr so abgeben. Und gleichzeitig merken sie aber auch, was es bedeutet, Doppelbelastung zu haben. Kinder können einfach auch anstrengen und sie haben eben einen anderen Rhythmus als die Erwachsenen. Dann werden die Kleinen krank oder haben Probleme mit den Schulaufgaben.
Also: die Männer wie auch die Frauen sind, in unterschiedlicher Art und Weise, mit sehr viel breiteren, umfassenderen, komplexeren Anforderungen konfrontiert. Die Männer müssen lernen mit Hausarbeit, also was alles dazu gehört, und Doppelbelastung umzugehen. Und am anderen Ende sind die Frauen, die immer schon Doppelbelastung haben, aber jetzt haben sie die Doppelbelastung gleichzeitig zuhause und wissen noch nicht so richtig, wie sie damit umgehen sollen.
Beide erleben auch in neuer Art und Weise Belastungsformen – darüber haben wir ja im ersten Interviewteil lange geredet – also psychische Belastungen im weitesten Sinne, aber auch handfeste psychosomatische Belastungen, also körperliche Risiken. Da tut auf einmal fürchterlich der Rücken weh oder die Migräne tritt jetzt immer öfter auf und man hat Probleme wegen der falschen Haltung am Bildschirm, weil der Stuhl nicht passt usw.
Wenn sie Glück haben, ist ein Gesundbeauftragter im Betrieb, der fragt: „Wie sieht das bei dir zuhause aus im Homeoffice?“ Aber viele Betriebe sind froh, wenn sie die Frage nicht stellen müssen. Geschweige denn, dass Arbeitsschutzrichtlinien im Homeoffice angewendet werden. Da kann die Gewerkschaft fordern, was sie will und sagen „da haben wir doch ein Arbeitsschutzgesetz“. Und jeder Praktiker weiß, dass man da ein hässliches Lachen erntet, zumindest in den meisten Fällen, die man dann hört. Es gibt Unternehmen, die das machen, das höre ich auch. Sehr gesundheitsbewusste, große Unternehmen aus der Metallindustrie. Die legen da großen Wert drauf und der Betriebsrat kümmert sich darum. Aber das ist eine große Ausnahme.

Carolyn Koch-Falkenberg:
Ich danke dir für deine Einschätzung. Deine Schilderung macht es sehr schön deutlich, welche besondere Qualität Homeofficearbeit aktuell hat. Wie kann deines Erachtens eine gute Führung von Mitarbeiter*innen in Pandemiebedingungen aber auch ‚nach Corona‘ gelingen?
Günter Voß:
Das ist eine wichtige Frage. In dieser Pandemiesituation mit Homeoffice wird noch einmal klar, dass es weithin ein Führungsversagen gibt. Dass Führungskräfte immer noch vor allem die Kontrolle im Auge haben. Manchmal nutzen sie das, um das noch zu verschärfen, z. B. mit digitalen Techniken zur Arbeits- und Personenkontrolle. Oder sie haben Kontrollverlustängste, immer schon aber jetzt noch einmal völlig neu.
Jetzt erleben sie eine Situation, wo notgedrungen die Arbeitskräfte größere Freiheiten haben – von denen vorher nur geredet wurde, aber praktisch passierte da nicht so viel dazu, wie das zu steuern wäre. Oder wenn, dann läuft das alles nur unter der Hand. Und jetzt gibt es Arbeitskräfte, die man tagelang nicht sieht. Vielleicht mal über Zoom, aber selbst da hat man natürlich keinen Blick, wo man den Leuten wirklich auf die Finger schauen kann und erkennt, wie es ihnen wirklich geht.
Viele Führungskräfte können damit nicht umgehen. Sie haben Angst, dass ihnen da etwas entgleitet, vielleicht sogar ihre Autorität zerbricht. Was jetzt erforderlich wäre, ist eine neue Führungsqualität oder mehr noch: eine ganz neue Führungsphilosophie. Oft sind das Sachen, die schon in manchem Lehrbuch der BWL standen, aber nie gemacht wurden: Ernsthafte Delegation, die Führungskraft nicht als Kontrollinstanz, sondern als Coach oder als begleitende und stützende Institution. Mehr denn je ist das jetzt gefragt.

„Es braucht eine neue Ausbildung von Führungskräften. Vielleicht braucht es auch eine neue Auswahl von Führungskräften. Dass man andere Persönlichkeiten braucht.“
Carolyn Koch-Falkenberg:
Was braucht es dafür?
Günter Voß:
Das braucht erstens, wie schon gesagt, eine völlig neue Führungskultur. Und auf die Ausbildungseinrichtung geblickt: Es braucht eine neue Ausbildung von Führungskräften. Vielleicht braucht es auch eine neue Auswahl von Führungskräften. Dass man andere Persönlichkeiten braucht.
Manchmal sagen viele Leute, es ist gut, wenn auch Frauen in leitenden Positionen sind und nicht nur Männer. Das lasse ich mal so im Raum stehen. Ich bin mir nicht sicher, ob Frauen wirklich so viel besser führen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Frauen, wenn sie in hochkarätige Führungspositionen kommen, noch rigider werden als die Männer – zumindest im Umgang miteinander. Das wird mir oft berichtet. Aber es braucht – so sagen manche – weibliche Qualifikationen, wobei ich nicht so genau weiß, was das ist.
Viele aus der Gender- oder Frauenforschung meinen: Frauen mit ihren Doppelbelastungen haben immer schon vielfältige, unterschiedliche Führungsfähigkeiten, z. B. im Umgang mit kleinen Kindern, entwickeln müssen. Und das könnte jetzt wirklich ein Potential sein, das man mehr als bisher nutzen kann. Da passiert vielleicht Vieles – unter dem Stichwort neue Führungskultur. Warten wir es ab. Ich bin gespannt auf die Frauen in der Führung – viele sind es ja noch nicht.
„Man kann Arbeitskräfte nicht verstehen und auch nicht führen und ihre Belastungen verstehen, wenn man nicht weiß, was sie sonst alles noch machen.“
Carolyn Koch-Falkenberg:
Was machen aus deiner Sicht die Führungsqualitäten von jenen Führungskräften aus, denen es gelingt, die Menschen in den aktuellen Zeiten zu begleiten? Was ich mich frage, ist: Hat die Art zu Führen nicht auch viel mit dem Bild, welches die Führungskräfte von ihren Mitarbeitenden haben und ihrer Haltung ihnen gegenüber, zu tun?
Günter Voß:
Ja, das ist ein wichtiges Thema. Was schon immer von mir erzählt worden ist: Es geht mehr denn je, in ganz neuer Art und Weise darum, die Mitarbeiter umfassend als Person oder mehr noch, als Menschen wahrzunehmen. Und zwar in dem Sinne, dass sie eben nicht nur Arbeitskräfte sind. Und sie nicht nur dann ein Problem werden oder ein Thema sind, wenn sie funktional bestimmte, mehr oder weniger eingeübte Tätigkeiten ausüben. Sondern es geht darum, was sie sonst noch alles können und machen.
Wir in unserer Forschung, du weißt das, haben uns seit Jahren schon mit Lebensführung beschäftigt – also um alles, was da hineinfällt in das Leben. Und da wurden wir lange Zeit komisch angeguckt, warum wir so etwas machen, „das geht doch niemanden etwas an“. Wir seien doch keine Familienforscher, wir sind Arbeitsforscher. Und dann haben wir gesagt: „Wir sind beides. Denn man kann Arbeitskräfte nicht verstehen und auch nicht führen und ihre Belastungen wie auch ihre Potentiale verstehen, wenn man nicht weiß, was sie sonst alles noch machen.“ Oder, wenn man sie überhaupt umfassend so anschaut, was sie alles sind und was sie alles machen. Und das ist nicht nur, was sie alles zu tun haben und wie das alles so organisiert ist, oder nicht organisiert ist, sondern was für Belastungen damit verbunden sind.
Und dann ist der nächste Punkt, der sofort auffällt, wenn wir über Führung reden: Es ist essenziell, die Menschen in dem Sinne als Menschen wahrzunehmen, dass sie eben mehr in sich haben als nur ihre Arbeitsfähigkeit im engeren Sinne. Sondern sie sind emotionale Wesen, psychische Wesen. Und das lässt sich nicht trennen. Arbeit ist immer auch eine emotionale Angelegenheit. Auch wenn manche das nie wahrhaben wollen, es ist aber so: Arbeit ist belastend, aber eben auch positiv. Arbeit kann hochgradig motivieren und man kann unendlich viele Kompetenzen ausspielen, wenn die Bedingungen gut dafür sind. In vielen Bereichen ist das aber nicht so. Also eine umfassendere Wahrnehmung der Arbeitskraft, eben nicht nur als Arbeitskraft. Und das ist nicht humanistisches Gedudel (was auch wichtig ist), sondern es ist sehr funktional.
Carolyn Koch-Falkenberg:
Das kann ich nur unterstreichen. Deshalb liebe ich das Zitat, das ich gleich zu Beginn meines Studiums der Arbeitssoziologie von dir hörte, so sehr. Sinngemäß lautet es aus der Perspektive eines Arbeitgebers, Unternehmers & Co.: „Du willst eine Arbeitskraft und bekommst einen ganzen Menschen – mit Potential aber auch Defiziten“.
Günter Voß:
Für mich ist das ein soziologisches, und vor allem ein überall wichtiges Thema, denn ich habe immer schon vertreten: Arbeit ist nicht nur Erwerbsarbeit, sondern Arbeit ist eigentlich alles das, was man zu tun hat und was damit verbunden ist. Dafür bin ich in der Soziologie, bis heute noch, aber immer auch angegriffen worden. Dann geht es gerade um diese Formen von Arbeit, die man nicht sieht, weil sie gar nicht auf dem Ticket sind. Und dann müssen die Frauen um die Ecke kommen und sagen „Hausarbeit, Hausarbeit“. Und dann musste ich sagen, „nicht nur Hausarbeit, was meint ihr denn alles damit?“ Da geht es nicht nur darum, den Abwasch zu machen oder den Babypo sauber zu machen. Es geht um den Umgang mit komplizierten menschlichen Situationen – weithin, dann kommt die Schwiegermutter, die bettlägerig ist und die Nachbarin, die krank ist oder wer und was auch immer. Und all das gehört zum Leben dazu. Und das ist ein ganz unmittelbar praktisches Problem.
Da brauchst du nicht weit gehen und dann weißt du, dass das den Betrieben so in dieser umfassenden Form jetzt noch einmal ganz neu ist – das muss man wirklich so sagen – und nun auf die Füße fällt. Man kann das nicht mehr ausblenden, das geht einfach nicht mehr. Also ein umfassenderes Menschenbild oder es gibt viele andere Ausdrücke, die dann oft verlacht werden und die jetzt aber eine ganz neue Bedeutung bekommen, jenseits von irgendwelchen Philosophen oder Ethikern. Ganz handfest, überall. Ich wüsste jetzt auch kein Szenario, wo das nicht stattfindet. Wer auch immer, also alle Ebenen rauf bis zur obersten Führungskraft und ganz unten natürlich sowieso, aber auch quer durch die Branchen. Es taucht überall auf, aber unterschiedlich.
Führung heißt heute, dem sich zu stellen. Und das sind andere Führungskräfte, die genau das so wahrnehmen. Zum Beispiel Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter wirklich kennen. Also nur ein Beispiel, was mich sehr beschäftigt hat und sehr geprägt hat: Mein ehemaliger Mentor an der Universität, Karl-Martin Bolte, hat ganz gezielt uns allen, die Mitarbeiter bis runter zur kleinsten Maus, immer mitgenommen auf lange Wanderungen, manchmal mehrere Tage. Und dann hat er mit jedem Einzelnen lange Gespräche im Wald oder wo auch immer, auf dem Berg, geführt und mir hat er dann erzählt, warum er das macht: „Ich kann euch alle nur führen, auch fördern, wenn ich weiß, wer ihr seid. Und dann will ich wissen, wo ihr herkommt, was ihr könnt, was euch belastet, was euer familiäres Umfeld ist. Und das erzähle ich von mir aber auch.“ Und ich war ganz beeindruckt und habe es mir sehr gemerkt.
Und wenn du dich an unsere Zusammenarbeit erinnerst, dann habe ich das irgendwie auch gemacht. Manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich das nicht noch mehr mache, aber es war mir ganz wichtig, euch alle zu kennen. In jeder Hinsicht. Und das würde ich sagen, das ist eine Fähigkeit für Führungskräfte, die mehr denn je gefragt ist. Ich bin fürchterlich erschrocken, wenn ich mitkriege, dass es nach wie vor Unternehmen gibt, wo das genau nicht passiert bzw., wenn das ein Thema wird, das entweder drüber gelacht wird oder aggressiv unterdrückt wird. Das geht einfach nicht mehr. Das war schon immer so. Aber es geht jetzt überhaupt nicht mehr, weil die Probleme sofort so scharf hochkochen, für den Betrieb wie aber auch für den Einzelnen. Man kann das nicht mehr ignorieren, das geht nicht mehr.

Carolyn Koch-Falkenberg:
Das teile ich absolut. In der Praxis sind die Führungsspannen ganz unterschiedlich groß, von vier Mitarbeitern bis 80 Mitarbeitenden und deutlich mehr. Vor allem in der Pandemiesituation berichten mir Führungskräfte immer wieder, dass sie ganz neu auf ihren Führungsstellen sind und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch kein einziges Mal vis à vis, persönlich gesehen haben, nur remote.
Günter Voß:
Das sind krasse Beispiele. Sie sind krass, aber nicht so selten. Man würde sich ja wünschen, dass das in der deutschen Industrie – und wir reden jetzt nicht über Namibia, die dritte Welt, wo man denkt, dass da die Welt ganz anders ist, was sie oft nicht ist (lacht) – aber man denkt immer, das darf doch bei uns nicht auftauchen.
Und dann kommt die Firma Tönnies um die Ecke oder wer auch immer, und dann stellt man fest, wie dort gearbeitet und geführt wird, hier also in der Fleischindustrie. Und die Fleischindustrie ist die Fleischindustrie, also eine große Branche, und da haben wir noch nicht über die anderen Formen von Lebensmittelproduktion und -handel geredet oder was es darüber hinausgibt. Da hat auch niemand hingeguckt. Gut, unser Arbeitsminister hat sich jetzt die Fleischindustrie vorgenommen, aber das ist ein winziger Ausschnitt und ich bin mir nicht sicher, was dann wirklich hinterher passiert.
Es ist ein breites Feld von Problemen, die immer schon da waren – ich wiederhole mich jetzt: es geht einfach nicht mehr, dass man das ausklammert. Spätestens, wenn die Pandemie so weiter geht, und es sieht so aus, dass sie weitergeht. Ich kann nur hässlich lachen oder weinen, wenn ich mitkriege, wenn alle sagen, das ist im Herbst vorbei. Die Pandemie ist nicht nur eine Entwicklung hier für die wenigen europäischen Länder. Es ist eine weltweite Pandemie und die bleibt es auch. Aber sie verändert sich auch noch.
Vielleicht sollte man sich ernsthaft klar machen, dass diese Pandemie eine weltweite Gesundheitsproblematik ist nach der weitere kommen werden. Und diese Pandemie ist nur ein Indiz für die unendlichen Probleme im Umgang mit der uns umgebenden Natur (mit dem Planeten überhaupt), die sich die Menschheit in ihrer langen (aber als Industriegesellschaft nur sehr kurzen) Geschichte nach und nach aufgehalst hat. Und so gesehen ist die betriebliche Gesundheitsproblematik nur ein Randaspekt, der aber viel aufzeigt – es geht um viel mehr und es gibt noch viel mehr zu tun. Unsere Kinder werden uns das noch klagend vorhalten, manche tun es ja schon jetzt mit Macht.

Die Autorin:
Dr. Carolyn Koch-Falkenberg ist Trainerin und Coach für Themen rund um das Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und sie empfindet es als Privileg Mitarbeitende, Führungskräfte und Organisationen in unterschiedlichster Form dabei zu begleiten, gesund zu bleiben oder es wieder zu werden.

Der Interviewpartner:
Prof. Dr. G. Günter Voß ist Sozialwissenschaftler mit den Forschungsschwerpunkten:
- Beruf und Bildung
- Arbeit und Leben
- Subjektorientierte Soziologie
- Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit und ihre psychosozialen Folgen
- Wandel der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft
- Robotik, Algorithmik und Künstliche Intelligenz sowie
- qualitative Methoden der Sozialforschung (insbesondere Intensivinterviews, visuelle Methoden und Beobachtung).
Aktuelle und zentrale Veröffentlichungen von Prof. Dr. G. Günter Voß als Autor/Mitautor:
- Lebensführung als Arbeit. München, Augsburg: R. Hampp 2021 (erweiterte Neuausgabe) ISBN 978-3-95710-286-7.
- Der arbeitende Nutzer. Über den Rohstoff des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a. M., New York: Campus 2020, ISBN 978-3-59351237-2.
- Arbeitende Roboter – Arbeitende Menschen. Über subjektivierte Maschinen und menschliche Subjekte. In: Alexander Friedrich et al (Hg.): Arbeit und Spiel. Jahrbuch Technikphilosophie 2018. Baden-Baden: Nomos 2018, ISBN 978-3-8487-42790, S. 139–180.
- Professioneller Umgang mit Zeit- und Leistungsdruck. Baden-Baden: Nomos/edition sigma 2016, ISBN 978-3-8487-2944-9 (zusammen mit Christoph Handrich, Carolyn Koch-Falkenberg).
- Conduct of Everyday Life in Subject-Oriented Sociology: Concept and Empirical Research. In: Ernst Schraube, Charlotte Højholt (eds.): Psychology and the conduct of everyday life. London: Routledge 2015, pps. 34–64 (zusammen mit Karin Jurczyk, Margit Weihrich).
- Unternehmen im Web 2.0. Zur strategischen Integration von Konsumentenleistungen durch Social Media. Frankfurt a. M., New York: Campus 2012, ISBN 978-3-593-39772-6 (zusammen mit Frank Kleemann, Christian Eismann, Tabea Beyreuther, Sabine Hornung, Kathrin Duske).
- Entgrenzte Arbeit – entgrenzte Familie. Grenzmanagement im Alltag als Herausforderung. Berlin: edition sigma 2009, ISBN 978-3-8360-8700-1 (zusammen mit Karin Jurczyk, Michaela Schier, Andreas Lange, Peggy Szymenderski).
- Der Arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden. Frankfurt a. M., New York: Campus 2005, ISBN 3-593-37890-6 (zusammen mit Kerstin Rieder).
- Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin: edition sigma 2003, ISBN 3-89404-978-2 (zusammen mit Hans, J. Pongratz).
- Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit, In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Bd. 31 (1998), Heft 3, S. 473–487.
- Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 50 (1998), Heft 1, S. 131–158 (zusammen mit Hans J. Pongratz).
Weitere Informationen zur Arbeit von Prof. Dr. G. finden Sie unter: https://ggv-webinfo.de/
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